Auf der Suche nach Stille

Von Birgit Loos

Absolute Stille. Was ist das? Findet man diese überhaupt noch, hier im Ballungsgebiet Rhein-Main?

Diese Frage beschäftigt mich jetzt seit einiger Zeit. Genauer gesagt, seit ich mitten in einem Baugebiet arbeite. Von morgens halb acht bis in den späten Abend hinein begleitet mich das Dröhnen der Maschinen, das Rattern der Bagger. Es scheppert, es röhrt, es rumpelt und kracht an allen Ecken und Enden. Der Lärm ist einfach unglaublich und übersteigt den erlaubten Dezibelwert um ein Vielfaches. Fenster öffnen und lüften ist völlig unmöglich. Denn der Krach übertönt jedes Gespräch im Inneren des Büros. Man hört weder, was der Kollege sagt, geschweige denn das Läuten des Telefons oder was der Telefonpartner einem mitzuteilen hat. Man kann sich nur noch mit Schreien verständigen Selbst durch das geschlossene Fenster dringt noch jede Menge Lärm. Am Abend ist man total erledigt. Die Ohren dröhnen und man wünscht sich nichts anderes als Stille. Aber wo ist diese zu finden? Und sind wir wirklich bereit für diese?

Auf dem Heimweg läuft das Radio, zu Hause der Fernseher. Und wenn ich mich entscheide beides auszustellen, dann habe ich noch immer keine Ruhe. Die Motoren der anderen Verkehrsteilnehmer und ihrer Fahrzeuge dringen an mein Ohr. Zu Hause fliegen die Flugzeuge über meinen Kopf. Ich höre den Rasenmäher des Nachbarn oder die elektrische Heckenschere. Die Kinder spielen mit der Play-Station und das Geräusch der nachgestellten Schüsse oder das Jaulen der Hochleistungsmotoren, die von angeblichen Rennstrecken herrühren, dringen mir durch Mark und Bein.

Weiter weg wird gegrillt und auch das geht nicht ohne Lärm. Die Musik ist so laut, dass man es auch noch drei Straßen weiterhört. Andere Nachbarn nutzen die Zeit und hämmern, klopfen und sägen. Niemand hat Verständnis, dass mein Kopf schmerzt und in meinen Ohren ein gefährliches Summen ertönt, dass mein ganzer Körper nach Stille schreit, die ich anscheinend nur im Schlaf finden kann. Bis ich auch da erwache, weil ein paar Spätheimkehrer ausgerechnet mein Schlafzimmerfenster als den idealen Ort auserkoren haben, um sich lautstark voneinander zu verabschieden. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis endlich wieder Ruhe herrscht.
Ich frage mich, was passieren würde, wenn unsere Vorfahren, die noch keinerlei Maschinen kannten, heute hier vorbeischauen und sich diesem ganzen Lärm ausgesetzt sehen würden. Ich bin davon überzeugt, sie würden schreiend davonlaufen bei dieser Vielzahl an Geräuschen und dem damit verbundenen Lärmpegel. Wie halten wir das aus? Tag für Tag?

Ich habe seit Baubeginn an meinem Arbeitsplatz mit offenen Augen und Ohren nach einem Platz gesucht, der einfach nur still ist. Ich habe ihn nicht gefunden. Selbst draußen in der Natur, in den Weinbergen, am Rhein, überall begegnen uns Maschinen, die lärmen. Schiffe, Autos, Traktoren, Motorräder, Flugzeuge. Es gibt keinen Platz, wo man dem entkommen kann. Das ist traurig, denn dadurch entgehen uns die Geräusche, die einem Frieden und Freude schenken. Man überhört das Singen der Vögel, das Rauschen des Windes in den Bäumen oder das Rufen des Kuckucks. Man überhört die Stimmen der Natur, die nicht den Ohren schmerzen. Und das ist das eigentliche Drama, dass wir bei der Vielzahl der Geräusche, die wir Menschen produzieren, die natürlichen Geräusche nicht mehr hören und zu schätzen wissen. Es wird Zeit, dass wir diese wieder finden. Vielleicht rührt ein Großteil der heutigen Aggressivität untereinander, aus dem Unvermögen absolute Stille zu finden und diese auszuhalten.

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